Spiritualität

Das Wort „Spiritualität“ hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere gemacht. Erst vor etwa vier Jahrzehnten ist es im deutschen Sprachraum heimisch geworden, heute ist es ein Modewort zur Bezeichnung höchst disparater Angebote, Übungen, Traditionen, Zustände, Gefühle und Wirklichkeitsdeutungen.

Hans Urs von Balthasar (gest. 1988) war einer der ersten, der den Begriff „Spiritualität“ in die theologische Sprache aufgenommen hat. In seinem Aufsatz „Das Evangelium als Norm und Kritik aller Spiritualität in der Kirche“ (1965) geht er von einer allgemeinmenschlichen Dimension von Spiritualität aus. Er versteht darunter jene „praktische und existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner – ethisch engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit des Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her“. Christliche Spiritualität ist in diesem Verständnis die „Durchstimmtheit“ des Lebens von der Antwort auf Gottes liebende Zuwendung in Glaube, Hoffnung und Liebe.

Die Wurzel des Begriffs „Spiritualität“ stellt das lateinische Adjektiv „spirit(u)alis“ dar, eine christliche Wortbildung, mit der schon früh die Mitte der christlichen Existenz bezeichnet wurde. Das entsprechende Hauptwort „spiritualitas“ ist bereits im 5. und 6. Jahrhundert nachweisbar. Inhaltlich verweist das Wort auf den Heiligen Geist und sein Wirken; „Spiritualität“ ist das vom Geist Gottes erweckte und geschenkte Leben, das geistliche Leben.

Theologie und Spiritualität sind jeweils aufeinander verwiesen. Christliche Spiritualität bedarf der theologischen Reflexion und Theologie bedarf der Spiritualität. Christliche Spiritualität ist primär nicht eine Lehre, sondern ein Lebensvollzug. Es geht um das Leben der christlichen Grundberufung des einzelnen inmitten der Gemeinschaft des Gottesvolkes, das zur Heiligkeit berufen ist. Dieses Leben der Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, das in der Taufe grundgelegt wurde, soll in der jeweils konkreten Lebenssituation des einzelnen realisiert werden. Dieses geistliche Leben ruft nach einer „Vergewisserung“, bedarf einer „Rechtfertigung“. Wie jeder in verschiedener Form und verschiedener Intensität sein Handeln und seine grundlegenden Lebensorientierungen reflektiert, ist auch das spirituelle Leben ein Bereich, der nach einem „Verstehen“ ruft. Analog zum Anselm’schen Motto „fides quaerens intellectum“ könnte man formulieren: Spiritualitas quaerit intellectum, die Spiritualität sucht als menschlicher Vollzug ein Verstehen, eine „Rechtfertigung“. Und das ist das Geschäft der Theologie. Reflexion des Glaubens schliesst auch die Reflexion des Vollzugs des Glaubens in sich, des Ja zum sich mitteilenden Gott, das im konkreten Lebensvollzug geschieht.

Dieser „intellectus“, dessen christliche Spiritualität bedarf, ist näher betrachtet die „diakrisis“, die discretio, die „Unterscheidung“. Spirituelle Theologie darf sich nicht mit einer Beschreibung von Phänomen und Erfahrungen begnügen. Vielmehr geht es um die „kritische“ Betrachtung dieser Erfahrungen – im Sinn der Unterscheidung der Geister. Als Reflexion der „Praxis“ geistlichen Lebens hat die spirituelle Theologie eine Nähe zur geistlichen Begleitung, die ja Unterscheidung (und Entscheidung) in konkreten Situationen als Ziel hat. Das Instrumentarium der „Unterscheidung der Geister“ ist nötig, nicht nur um spirituelle Erfahrungen zu interpretieren, sondern auch um z.B. konkrete Formen des Weltengagements zu prüfen.

Spiritualität als Lebensvollzug kann nur gelingen, wenn ein Minimum solchen Suchens nach Verstehen gegeben ist. Analog ist ja auch dem Glaubensvollzug ein Minimum dieses Fragens und Suchens nach dem Warum inhärent. Die Spirituelle Theologie vollzieht ex professo diese Reflexion und diese „Vergewisserung“ in einer methodisch reflektierten und systematischen Weise. Allerdings ist Spirituelle Theologie kein Ersatz für Spiritualität. Das Entscheidende ist und bleibt der Lebensvollzug; die theologische Reflexion will und soll dem Lebensvollzug unterstützend und Orientierung gebend helfen.

Prof. Dr. Josef Weismayer